Kriegsenkel — die Kinder der Kriegskinder
Männer und Frauen der „dritten Generation“, geboren etwa zwischen 1955 und 1975
Männer und Frauen der „dritten Generation“, geboren etwa zwischen 1955 und 1975
eine Generation, die Schätzungen zufolge zu 70% kriegsbedingte Schock- und/oder Entwicklungs-Trauma erfahren hat
Seit Ende der 90er Jahre wurde langsam in der Öffentlichkeit durch Thematisierung in Büchern und Presse bekannt, dass es so etwas wie eine „vergessene Generation von Kriegskindern“ gibt, d.h. von Menschen, die in den Kriegsjahren geboren wurden und in ihren jüngsten Jahren mit Bombenangriffen, Flucht, Vertreibung, Hunger, großen Verlusten und Traumata in der Familie konfrontiert wurden. Teilweise betrifft es sogar noch die Jahrgänge nach 1945, da zum Kriegsende hin viele Menschen flüchten mussten und auch eine gewaltige Zwangsumsiedelung begann. Bis in die 1950er Jahre gab es noch Millionen von Vertriebenen, die nunmehr Spätaussiedler genannt wurden.
Sie waren Kinder in einer besonders schwierigen Zeit. Krieg.
Niemand heute würde auf die Idee kommen, dass Menschen und ganz besonders Kinder, einen Krieg unbeschadet überstanden haben.
Vornehmlich die jüngeren Kinder, bei denen das Langzeitgedächtnis noch nicht ausgebildet ist, erlitten oft kleinere und größere Traumata, ohne sie bewusst einordnen und bewältigen zu könnten. Ohne sie als solche zu verbalisieren. Dies verhinderte eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Erlebten.
Anne-Ev Ustorf schreibt darüber in ihrem Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“:
„Fälschlicherweise glauben viele Menschen, dass nur die Kriegskinder, die alt genug waren, um sich an konkrete belastende Ereignisse zu erinnern, heute noch mit den Folgen des Erlebten zu kämpfen haben. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Jahrgänge 1942 bis 1945, die kaum oder gar keine Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre im Krieg oder die Zeit unmittelbar danach haben, leiden besonders an den Spätfolgen ihrer frühen Erfahrungen – oft ohne es zu wissen.“
…“ Diese Tatsache lässt sich wohl so erklären: gerade pränatale Erlebnisse und frühe Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren wirken sich maßgeblich auf unsere seelische und körperliche Gesundheit und emotionale Entwicklung aus. Babys lernen von ihren Bezugspersonen, ihren eigenen inneren Zustand zu deuten: So gut oder schlecht wie die Bindungsperson – meist die Mutter – die eigenen Gefühle regulieren kann, gelingt dies auch dem Baby.“ …“ Die Fähigkeit, Gefühlszustände anderer erkennen, Empathie empfinden und eigenen Gefühlszustände regulieren zu können, stammt aus dieser Zeit.“
Siehe auch das kindliche Gehirnwellenmuster unter EFT für Eltern und Kinder
Selbst die Erwachsenen waren mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer meist komplett alleingelassen und überfordert. Es war eine Zeit, in der man funktionieren musste, um zu überleben und für Trauer gab es keinen Platz. Größtenteils konnten die Erwachsenen ihre Kinder daher nicht entsprechend trösten, ihnen Sicherheit, Geborgenheit und die nötige Bindung vermitteln, die diese so dringend in den jüngsten Jahren zum Aufbau einer stabilen Persönlichkeit gebraucht hätten.
Die Kriegskinder mussten mit ihren Gefühlen, der Unsicherheit und „Alleingelassenheit“ selbst klarkommen, sie irgendwie einordnen und ebenso wie die Erwachsenen verdrängen und als normal hinnehmen, da es schließlich allen so ging.
Die Kriegskinder-Generation ist erwachsen geworden, hat viel geleistet, sich vielfach an Beruf und Erfolg orientiert und wiederum Kinder bekommen. Die Kriegsenkel.
Viele Männer und Frauen dieser „dritten Generation“ sind von den kindlichen Kriegserfahrungen ihrer Eltern geprägt. Aus der Psychotherapie ist lange bekannt, dass wenn traumatische Erfahrungen verschwiegen und/oder emotional nicht aufgearbeitet werden, diese still weiter wirken und in die nächste Generation übertragen werden können. Man spricht von transgenerationaler Weitergabe.
Auf den ersten Blick betrachtet hat es der Kriegsenkel-Generation an nichts gefehlt. Sie sind in einer Zeit des Friedens und des Wohlstands aufgewachsen. In den Berichten allerdings entsteht ein anderes Bild.
Etwas Grundlegendes ist etlichen abgegangen: die Nähe, die Liebe und die emotionale Unterstützung ihrer Eltern.
Vielfach konnten diese Kriegskinder-Eltern ihnen das nicht geben. Nicht, weil sie es nicht gewollt hätten, meist konnten sie es einfach nicht, weil ihnen diese grundsätzliche emotionale Stabilität völlig unbekannt war. Die Schatten des frühkindlichen Leids machten es ihnen fast unmöglich, eine tiefe, vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Die Kriegskinder-Eltern haben somit ihr eigenes frühkindlich erlerntes prekäres Bindungsschema an ihre eigenen Kinder, die Kriegsenkel, weitervermittelt, obwohl die Zeiten sich geändert hatten.
Beim Lesen und Hören der vielen Geschichten der Kriegsenkelgeneration, die nun in der Öffentlichkeit erschienen sind, tritt vielfach dieses Phänomen zutage. Immer wieder fallen die Worte:
„Ich bin meinen Eltern nie nahe gekommen“
„Wir sind füreinander Fremde geblieben“
„Ich konnte die Liebe meiner Eltern nicht spüren“
„Wir konnten nicht miteinander reden“
„Ich musste für meine Eltern da sein“
Oft wird ein ungreifbares Gefühl der Leere und Schwere beschrieben; diffuse Gefühle, dass etwas fehlt oder sich falsch anfühlt. Es wird unter anderem von Gefühlen der Heimatlosigkeit berichtet, von Existenzangst, Bindungsschwierigkeiten, geringer Sozialkompetenz, diffusen Ängsten und Identitätsverwirrungen.
Doch vor allem scheint die emotionale Sprachlosigkeit in den Familien prägend gewesen zu sein. Vielfach wird von der emotionalen Unerreichbarkeit der Eltern berichtet. Die eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen und mitteilen zu können, wurde von vielen Betroffenen erst viel später gelernt.
Und für viele Kriegsenkel ist genau das bis heute schwierig.
Zahlreich wird von dem Gefühl berichtet, das so treffend im Forum Kriegsenkel unter den Lebensgeschichten beschrieben wird:
„Ich ertappe mich auch immer dabei, wie ich beim Fernsehen schauen immer und immer wieder bei Dokumentationen über Krieg, Hitler, Vertreibung, Holocaust usw. hängen bleibe! Es ist wie ein Sog. Dann schaue ich mir diese Sendungen an und fange jedes Mal bitterlich an zu weinen… es ist wie eine tonnenschwere Last, die auf mir liegt; ich fühle so viel Schuld und Mitleid und Trauer in mir.“
Dass diese Gefühle etwas mit der Vergangenheit der Eltern, mit dem Krieg zu tun haben, haben sie schon lange vermutet, erzählen viele der Kriegsenkel. In manchen Familien wurde darüber gar nicht geredet, in manchen sogar zu viel und wieder in anderen wurde über die Kriegszeit geredet, aber es entstand das Gefühl, als ob bedeutende Stellen in den Erzählungen ausgelassen würden. Oft fehlte der Gefühlszugang zum Erzählten.
Vielfach haben die Kriegsenkel diese unausgesprochenen Gefühle unbewusst übernommen und ausgelebt ohne zu wissen, woher diese stammen.
Erst durch die breite Öffentlichkeitsarbeit und das Sichtbarwerden dieses Phänomens bei vielen Menschen der Kriegsenkel-Generation wird klar, dass sie nicht alleine da stehen. Dieses Wissen kann ihnen Trost bieten, Stärke geben und vor allem Verständnis für die Zusammenhänge, sowie ein tieferes Verständnis für die Erfahrungen und Verhaltensweisen ihrer Eltern vermitteln, und damit gleichzeitig einen neuen Blickwinkel für die eigene Lebensgeschichte ermöglichen.
Aktuell werden die Urenkel erwachsen, die 4. Generation. Und die 5. Generation wird geboren und wächst gerade heran. Die Zusammenhänge und Hintergründe der deutschen Kriegsgeschichte fangen an zu verschwimmen.
Dennoch wirkt unerlöstes Trauma weit bis in die folgenden Generationen hinein.
Oftmals schwingt das Pendel dann um, und was Kinder durch ihre Eltern als Vernachlässigung erfahren haben, wird in der nächsten Generation, bei den eigenen Kindern versucht besonders gut und „anders“ zu machen. Manchmal werden daraus überversorgende, überkontrollierende Eltern.
Egal ob es noch alte kollektive Kriegs-Hintergründe sind, die wirken, oder familiäre transgenrationale Geschichten oder einfach das eigene Entwicklungs-Trauma, es macht Sinn nach ganzheitlichen Ansätzen zu schauen und Lösungsmöglichkeiten zu finden.